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Roman (36), angehender Chirurg, Dnipro

Meine Angst ist auch damit verbunden gewesen, dass an dem Krankenhaus, in welchem ich gearbeitet habe, sich ein Ziel befindet, welches von strategischer Bedeutung ist. Dieses Ziel hatte auch Putin in seiner Rede am 22. Februar 2022 genannt.

  • Deutsch
    Entfernung: Witten – Dnipro: 2.307,9 km

    Dnipro ist mit etwa einer Million Einwohnenden nach Kiew, Charkiw und Odessa die viertgrößte Stadt der Ukraine und das administrative Zentrum der Oblast Dnipropetrowsk und des Rajon Dnipro.  Dnipro liegt an drei Seiten der Mündung der Samara in den hier aufgestauten Dnipro und rund 400 Kilometer südöstlich der Hauptstadt Kiew in der zentralöstlichen Ukraine. Darüber hinaus ist Dnipro durch das dort befindliche operative Armeekommando Ost ein bedeutender Standort der ukrainischen Armee.

    Leben in der Ukraine

    „Als ich in der 9. Klasse war, bin ich nach Dnipro gezogen, um dort auf eine medizinische Schule gehen zu können. Den folgenden zwölf Jahren habe ich mich meiner medizinischen Laufbahn gewidmet. Dnipro ist eine Großstadt. An und für sich ist es eine schöne Stadt, und vor allem in den letzten Jahren war eine enorme Entwicklung zu sehen. Viele Freunde von mir wollten in der Hauptstadt leben, aber ich wollte immer in Dnipro bleiben, weil es eine wirklich schöne Stadt ist. Da ich eine medizinische Schule besucht und dort viel Basiswissen erhalten habe, konnte ich mit Leichtigkeit das Studium absolvieren. Die Studienzeit war eine gute Zeit, da ich ja bereits viel Vorwissen hatte. Als ich das Studium abgeschlossen hatte, musste ich wirklich eine Münze werfen, um zu wissen, welche Spezialisierung ich annehmen solle - Anästhesist oder Chirurg. Und mit dem Weg des Chirurgen habe ich eine gute Wahl getroffen, da ich auch viele kompetente und gute Kollegen hatte, die mir helfen konnten, unter anderem auch der Chefarzt des Krankenhauses.
    Dnipro ist eine ziemlich gewöhnliche, typische Industriestadt. Ich habe ein typisches Leben geführt. Ich war fünf Tage in der Woche arbeiten und hatte zwei Tage in der Woche frei. Meine Arbeitstage waren natürlich immer sehr lang, weil es durchaus der Fall sein konnte, dass eine Operation dazwischen kam. Freitags oder samstags besuchten wir eine Bar oder unternahmen etwas im Freien und konnten das Leben ganz gut genießen. Vielleicht irre ich mich, aber für mich war Dnipro eine typische Arbeiter- und Industriestadt. Die größte Promenade Europas befindet sich in Dnipro und sie ist wirklich eine schöne Stadt gewesen.“

    Zur Situation

    „Vor zwei Jahren nahmen wir wahr, dass viele hohe Häuser gebaut worden sind. Dies war schon sehr auffällig. Wir nahmen bereits an, dass es sich um Häuser für die Binnenflüchtlinge aus Charkiw oder Donezk handeln könnte, weil dort ja die Situation seit einigen Jahren sehr gefährlich war. Wir vermuteten also, dass Wohnraum für die Menschen aus dem Osten der Ukraine geschaffen worden ist. In meiner Studienzeit hatte ich das Glück, dass ich viel durch Europa reisen konnte und Dnipro stand den europäischen Städten in Nichts nach. Wir hatten eine schöne Innenstadt, viele Ausgehmöglichkeiten, Bars und Restaurants. Es war wirklich sehr schön. Dnipro ist eine zweigeteilte Stadt aufgrund des Flusses, ähnlich wie es in Budapest der Fall ist oder auch in Köln. Die rechte Seite war die etwas wohlhabendere Seite und die linke Seite erinnerte noch an Sowjetzeiten, weil es dort viel Wohnsiedlungen und Plattenbauten gab. Ich selbst lebte etwas außerhalb der Stadt. Dort gab es dann keine asphaltierten Straßen. Es war nicht besonders komfortabel und insbesondere im Winter und im Herbst nahm man den Dreck von draußen mit in die Wohnung. In bestimmten Wohngebieten wurde schließlich viel Geld investiert, es gab eine tolle Architektur und man merkte, dass viel in Bewegung war.
    Es gab Informationen, dass Dnipro der Grund war, dass die Situation um 2014 nicht weiter eskaliert ist. Ich kann mich an diese Zeit nicht ganz genau erinnern, aber insgesamt gab es mehr proukrainische als prorussische Bewegungen. Somit war Dnipro eine Art Grenzstadt, die sich aber klar zur Ukraine bekannt hat. 60-70 Prozent meines Bekanntenkreises haben die Revolution auf dem Maidan als positiv oder zumindest neutral bewertet, aber es war gerade die ältere Generation, so wie zum Beispiel mein Onkel, die diese Entwicklung nicht gutgeheißen haben und sich nostalgisch gegenüber der Sowjetzeit geäußert haben. Ihrer Meinung nach haben sie nämlich in der Sowjetzeit besser gelebt als in der Zeit nach der Perestroika. Dnipro war schon immer eine russischsprachige Stadt und im Jahre 2014 begannen die Menschen vermehrt ukrainisch zu sprechen. Meiner Meinung nach sind es mittlerweile etwa 50 Prozent der Menschen, die dort ukrainisch sprechen. Dnipro hat ja eine gewisse Nähe zum Donbass und war somit auch immer ein Knotenpunkt für verwundete oder geflüchtete Menschen aus dem Osten des Landes. Somit ist die Bedeutung der Stadt enorm gewesen. Und trotz dieser wichtigen Position der Stadt hatte man immer das Gefühl, dass der eigentliche Konflikt noch sehr weit weg war.“

    Zum Kriegsausbruch

    „Eine Woche bevor die Invasion begann, habe ich mich mit Freunden getroffen. Wir haben über so etwas wie „Notfallkoffer“ gesprochen, aber es war eher süffisant gemeint, weil wir die ganze Bedrohungslage nicht ernst genommen haben. Eine Freundin von mir, welche am 22. Februar 2022 heiraten wollte, war das eigentlich wichtigere Thema. Diese äußerte aber ernsthafte Bedenken und war die erste in unserem Kreis, die die Situation und einen potentiellen Krieg benannte. Auch auf der Arbeit äußerten die Menschen ihre Sorgen, aber die meisten Kolleginnen und Kollegen haben an eine eher kurze Kriegseskalation geglaubt. Der Angriff am 24. Februar kam für mich sehr überraschend. An diesem Tag bin ich früh aufgewacht. Ich konnte zwar nicht hören wie der Flughafen angegriffen worden ist, aber als ich nach meinem Handy gegriffen habe, haben alle geschrieben, dass wir angegriffen werden. Zu allererst bin ich zu meiner Tante und meinem Onkel gegangen. Dort angekommen habe ich angefangen, panisch zu zittern, und habe realisieren können, was hier gerade passiert. Meine Angst ist auch damit verbunden gewesen, dass an dem Krankenhaus, in welchem ich gearbeitet habe, sich ein Ziel befindet, welches von strategischer Bedeutung ist. Dieses Ziel hatte auch Putin in seiner Rede am 22. Februar 2022 genannt.  Damals, in Sowjetzeiten, wurde dieser Ort für Nuklearexperimente oder die Lagerung von nuklearem Material genutzt. Man weiß nicht wirklich, was dort gemacht worden ist. Zwar ist dort mittlerweile eine Maschinenbaufabrik, aber dennoch ist dieser Ort mit großer Angst verbunden. Zwei Tage habe ich schließlich weitergearbeitet. Dann wurde uns mitgeteilt, dass wir frei nehmen müssen, erst einmal für vierzehn Tage. Meine Tante wurde zuvor operiert und ich nutzte die freien Tage, um mich um sie zu kümmern. Ich bin erst einmal in der Stadt geblieben und meine Mutter und Freundinnen sind dann in Richtung des Westens des Landes geflohen, um dann weiter zur Grenze reisen zu können. Das Ziel meiner Mutter war Österreich, da dort eine Freundin lebte, und die Freundinnen von ihr sind schließlich in München geblieben. Da die Tante am Magen operiert worden ist, konnte ich sie natürlich nicht alleine lassen. Der Heilungsprozess dauert sehr lange und sie war für mich wie eine zweite Mutter. Ich musste mich also als Neffe und Arzt um meine Tante kümmern. Die Zeit war psychisch natürlich sehr belastend. Ich musste über eine Stunde mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit fahren. Durch die Bedrohungslage und auch durch die Gedanken, dass immer wieder etwas passieren könnte, steht man sehr unter Druck. Und man hörte immer wieder, dass Ziele bombardiert worden sind, die strategisch nicht wertvoll seien, wie zum Beispiel eine Schuhfabrik, die in unmittelbarer Nähe des Wohnortes meiner Mutter war.

    Der Weg nach Deutschland

    „Ab April nahm ich an einem Online-Studium teil. Anfang Juni konnte ich dann nach Tschechien, da dort Freunde aus der Schulzeit von mir lebten. In Dortmund hatte ich schließlich auch einen Bekannten, mit dem ich viel redete und telefonierte. So kam ich schließlich nach Witten.
    Mein Wunsch war es immer, im Ausland zu arbeiten. Ich habe sogar schon tschechisch gelernt. Ich hatte bereits ein Praktikum in Deutschland machen können. Da ich mit der medizinischen Situation in der Ukraine nicht ganz einverstanden bin, wollte ich woanders Erfahrungen sammeln können. Nun geht es hier in Deutschland um die Anerkennung meines Studiums, damit ich weiter in meinem Beruf arbeiten kann. Die Entscheidung, ins Ausland zu fahren, war die Folge der psychischen Belastung. Ich musste es tun. Aufgrund meiner eigenen Magenerkrankung (Magengeschwür) hatte ich eine offizielle Befreiung vom Militärdienst erhalten. Ich wäre nicht dienstfähig gewesen.“

    Wünsche

    „Natürlich wünsche ich mir, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt, um sich weiter an Europa orientieren zu können, gerade was Bildung, Medizin und Digitalisierung angeht. Das ist der Wunsch, den ich für die Ukraine habe. Ich selbst kann aber keine langfristigen Pläne mehr schmieden. Das zeigte mir die Situation in der Ukraine. Aber ich kann mir kurzfristige Ziele setzen, so wie den Erwerb der Sprache, damit ich relativ schnell wieder in dem Bereich arbeiten kann, worauf ich mein ganzes Leben lang hinarbeitete.“

     

    Das Interview wurde am 06. Juni 2022 von Sebastian Schopp geführt.

  • English

    Roman (36), prospective surgeon, Dnipro

    Distance: Witten – Dnipro: 2.307,9 km

    Dnipro is with about one million inhabitants after Kiev, Kharkiv and Odessa the fourth largest city in Ukraine and the administrative center of the Dnipropetrovsk Oblast and the Dnipro Rajon.  Dnipro is located on three sides of the mouth of the Samara River into the Dnipro River, which is dammed here, and about 400 kilometers southeast of the capital Kiev in central-eastern Ukraine. In addition, Dnipro is an important location of the Ukrainian army due to the Operational Army Command East located there.

    Life in Ukraine

    "When I was in 9th grade, I moved to Dnipro to go to medical school. For the next twelve years, I dedicated myself to my medical career. Dnipro is a big city. In and of itself it is a beautiful city, and especially in recent years there has been tremendous development. Many friends of mine wanted to live in the capital, but I always wanted to stay in Dnipro because it is a really beautiful city. Since I attended a medical school and received a lot of basic knowledge there, I was able to graduate with ease. The study period was a good time because I already had a lot of prior knowledge. When I graduated, I really had to flip a coin to know which specialization to take - anesthesiologist or surgeon. And with the path of the surgeon I made a good choice, because I also had many competent and good colleagues who could help me, including the chief physician of the hospital.
    Dnipro is a pretty ordinary, typical industrial city. I lived a typical life. I was at work five days a week and had two days off a week. My working days were always very long, of course, because it could well be the case that an operation intervened. On Fridays or Saturdays we would visit a bar or do something outdoors and could enjoy life quite a bit. Maybe I am wrong, but for me Dnipro was a typical working class and industrial city. The biggest promenade in Europe is in Dnipro and it has really been a beautiful city."

    About the situation

    "Two years ago we perceived that many high houses were built. This was already very noticeable. We already assumed that these could be houses for the internally displaced people from Kharkiv or Donetsk, because the situation there had been very dangerous for several years. So we assumed that housing had been created for the people from the east of Ukraine. In my student days, I was lucky enough to be able to travel around Europe a lot, and Dnipro was not inferior to the European cities. We had a beautiful downtown, lots of places to go out, bars and restaurants. It was really very nice. Dnipro is a city divided in two because of the river, similar to Budapest or even Cologne. The right side was the slightly more affluent side and the left side was still reminiscent of Soviet times because there were a lot of housing estates and prefabricated buildings. I myself lived a little outside the city. There were no asphalted roads there then. It was not very comfortable and especially in winter and autumn you took the dirt from outside into your apartment. In certain residential areas, a lot of money was finally invested, there was great architecture and you could tell that a lot was going on.
    There was information that Dnipro was the reason that the situation did not escalate further around 2014. I don't remember that time exactly, but overall there were more pro-Ukrainian movements than pro-Russian movements. Thus, Dnipro was a kind of border town, but it clearly declared its allegiance to Ukraine. 60-70 percent of my acquaintances considered the revolution on the Maidan to be positive or at least neutral, but it was precisely the older generation, such as my uncle, for example, who did not approve of this development and expressed nostalgia for the Soviet era. In their opinion, they lived better in the Soviet period than in the post-Perestroika period. Dnipro has always been a Russian-speaking city, and in 2014 people began to speak more Ukrainian. I think it is now about 50 percent of the people there speak Ukrainian. Dnipro, after all, has a certain proximity to the Donbass, so it has always been a hub for wounded or refugees from the east of the country. Thus, the importance of the city has been enormous. And despite this important position of the city, one always had the feeling that the actual conflict was still very far away."

    On the outbreak of war

    "A week before the invasion began, I met with friends. We talked about something like "emergency kits," but it was meant rather smugly, because we didn't take the whole threat situation seriously. A friend of mine, who was getting married on February 22, 2022, was actually the more important topic. However, this one expressed serious concerns and was the first in our circle to name the situation and a potential war. People at work also expressed their concerns, but most colleagues believed in a rather short war escalation. The attack on February 24 came as a great surprise to me. I woke up early that day. I couldn't hear the airport being attacked, but when I reached for my cell phone, everyone was texting that we were being attacked. First of all, I went to my aunt and uncle's house. Once there, I started shaking in panic and realized what was happening. My fear was also connected with the fact that at the hospital where I worked there is a target which is of strategic importance. This target was also mentioned by Putin in his speech on February 22, 2022.  At that time, in Soviet times, this place was used for nuclear experiments or storage of nuclear material. It is not really known what was done there. Although there is now a machine-building factory there, but still this place is associated with great fear. I finally continued to work for two days. Then we were told that we had to take time off, first for two weeks. My aunt had an operation beforehand and I used the days off to take care of her. I stayed in the city for the time being and then my mother and friends escaped towards the west of the country and then continued to the border. My mother's destination was Austria because a friend lived there, and her friends ended up staying in Munich. Since my aunt had stomach surgery, I could not leave her alone, of course. The healing process takes a long time and she was like a second mother to me. So I had to take care of my aunt as nephew and doctor. The time was psychologically very stressful, of course. I had to travel over an hour by public transport to work. Because of the threat situation and also because of the thoughts that something could happen again and again, you are under a lot of pressure. And we kept hearing that targets had been bombed that were not strategically valuable, such as a shoe factory that was in the immediate vicinity of where my mother lived.“

    The way to Germany

    "Starting in April, I took part in an online study program. Then, at the beginning of June, I was able to go to the Czech Republic because friends of mine from my school days lived there. In Dortmund, I finally also had an acquaintance with whom I talked and telephoned a lot. That's how I finally came to Witten.
    It was always my wish to work abroad. I even learned Czech already. I had already been able to do an internship in Germany. Since I am not completely satisfied with the medical situation in Ukraine, I wanted to be able to gain experience somewhere else. Now the issue here in Germany is to get my studies recognized so that I can continue to work in my profession. The decision to go abroad was the result of psychological stress. I had to do it. Due to my own stomach illness (gastric ulcer), I had received an official exemption from military service. I would not have been fit for service."

    Wishes

    "Of course, I wish that Ukraine wins this war so that it can continue to align itself with Europe, especially in terms of education, medicine and digitalization. That is the wish I have for Ukraine. But I myself can no longer make any long-term plans. The situation in Ukraine showed me that. But I can set short-term goals for myself, like acquiring the language, so that I can work again relatively quickly in the area I've been working toward all my life."

    The interview was conducted on 06 June 2022 by Sebastian Schopp.

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